An Tag 3 unserer Reise ging es nach Nordrhein-Westfalen ins Bergische Land: In Velbert besuchten wir das mittelständische Unternehmen Stannol GmbH & Co. KG. Themen an diesem Tag waren die kreislaufwirtschaftliche Produktion von Lotmaterialien, eine nachhaltige Unternehmenskultur und die Umsetzung des digitalen Produktpasses in die Praxis.
Tagebucheintrag 4.2.2025, Velbert: Die Chemie stimmt
Der Weg an diesem eiskalten, nebligen Morgen führte uns durch ein typisches Gewerbegebiet zu einem, auf den ersten Blick, unscheinbaren Firmengelände einer mittelständischen Produktionsfirma.
Doch, dass der erste Eindruck täuscht, wurde bereits beim Betreten des Bürotraktes von Stannol sofort klar.
Wir wurden herzlich begrüßt, in einem Veranstaltungsraum, in einem Raum, wie man ihn in Berlin, München oder Hamburg in Co-Working-Spaces, bei Start-ups oder in der Innovationsabteilung von Konzernen erwarten würde:
Ein hoher Besprechungstisch mit Barstühlen, eine moderne, kleine Tribüne, gemütliche Designer-Sessel und neben der Kaffeemaschine das Stannol-Logo in Pflanzenform bzw. Vertikal-Begrünung.
So waren wir mehr als neugierig auf die persönlichen Berichte aus dieser Firma, von der wir bislang nur die innovative Nachhaltigkeitswebsite kannten.


Wo kommt eigentlich unser Rohmaterial her? Eine einfache Frage…
Nach diesem ersten Highlight begrüßte uns der Geschäftsführer von Stannol, Marco Dörr. Er stellte kurz die Firma, ihre Geschichte und das Geschäftsmodell vor:
Seit über 140 Jahren ist Stannol in der Lötmitteltechnik tätig und stellt u.a. Lötdrähte, Lotpasten, Flussmittel u.a. her. Stannol verarbeitet Rohmaterial, zum Großteil Zinn, aber auch andere Metalle zu fertigen Endprodukten, die sie an Kund*innen hoch individualisiert verkaufen, bzw. kund*innenspezifisch produzieren.
Lötmitteltechnik ist eine zentrale Komponente bei der Herstellung aller Elektronikprodukte und damit auch für die Digitalisierung ein essenzieller Teil der Lieferkette.

Die Neugierde von Marco Dörr ebnete den Weg zur Kreislaufwirtschaft.
Im Rahmen der Unternehmensnachfolge und dem Kennenlernen aller Prozesse stellte er seinem Vater die Fragen: „Woher kommt eigentlich unser Rohmaterial?“, und „Nach welchen Kriterien kaufen wir eigentlich unsere Ware ein?“
Die Antwort auf diese Fragen und das darauf folgende Gespräch führten Marco Dörr zu einer intensiven Suche nach besseren, nachhaltigeren Wegen. Denn die traditionellen Kriterien – Preis, Qualität und Lieferzeit – berücksichtigt nicht die globalen Abbaubedingungen von Zinn. Diese sind umweltschädlich und stellen eine erhebliche Gefahr für die Gesundheit der Minenarbeiter*innen dar. Hinzu kommen teils illegale Minenbetriebe und sogar Menschenrechtsverletzungen.
So begab sich das Unternehmen auf eine längere Reise, an dessen Ende eine FAIRTIN Produktlinie stand: Das Rohmaterial dieser Produktpalette stammt aus Primärzinn aus eigens überprüften Minen in Schwellenländern oder Recyclingzinn. So fand die Firma eine Lösung für fehlende Zertifizierungen oder offizielle Standards. Auf diese Weise kann das Unternehmen für die Umwelt- und Menschenrechtsproblematik beim Zinnabbau zu sensibilisieren und mehr Transparenz schaffen.

Mittlerweile ist der Einkauf vorrangig zirkulär orientiert: Um CO²-Emissionen zu senken und Rohstoffe zu sparen, hat Stannol seine Einkaufsstrategie angepasst. Das Unternehmen setzt heute schwerpunktmäßig auf den Kauf von Sekundärzinn. Dies sind Rezyklate, die z.B. aus Elektroschrott rückgewonnen werden.
Von der Idee zur Umsetzung: Kreislaufwirtschaft und die nachhaltige Unternehmenskultur
Der nächste Impuls kam von Susanne Schlüter, Assistenz der Geschäftsführung, die uns offen und transparent von den vielfältigen Nachhaltigkeitsinitiativen bei Stannol berichtete.
Besonders hervorzuheben war die Motivation, die aus dem Unternehmen selbst kam, sowie die freiwillige Beteiligung der Mitarbeitenden. Ein wichtiger Aspekt war auch die Unterstützung der Geschäftsleitung, die sowohl Handlungsspielräume ermöglichte als auch aktiv mitwirkte.
Susanne Schlüter sprach Aktivitäten an, die neben den produktbezogenen Aktivitäten (FAIRTIN) wichtig im Unternehmen sind: Dies sind u.a. die Treibhausgasbilanzierung, die viel bewegt hat. Sie hat sensibilisiert und die Augen geöffnet.

Ein wesentlicher Bestandteil der Wesentlichkeitsanalyse war die Erkenntnis, dass der größte Hebel im Bereich der Produkte liegt. Insbesondere die Rohstoffe, Metalle und Chemikalien tragen maßgeblich zu den Emissionen bei. Die Zirkularität stellt daher einen entscheidenden Faktor für das Unternehmen dar, um die Klimaziele erfolgreich zu erreichen.
Diese Erkenntnis aus der Wesentlichkeitsanalyse ermöglichte dem Unternehmen eine klare und entlastende Priorisierung. Durch die Implementierung einer zirkulären Einkaufsstrategie konnten schnell bedeutende Fortschritte erzielt werden.
Gleichzeitig blieb genügend Raum, um parallel an vielen kleineren Hebeln zu arbeiten. Dies geschah jedoch ohne übermäßigen Druck, sondern vielmehr mit einer hohen Motivation und Freude an der Sache.
Die Bilanzierung stellte auch einen wichtigen Anlass dar, das gesamte Unternehmen sowie die Mitarbeitenden aktiv in den Prozess einzubinden.
Wir haben in den Abteilungen gefragt, was habt Ihr noch für Ideen? Dabei ist ganz viel zusammengekommen, kleine und große Veränderungen.
Susanne Schlüter
So wurde u.a. auf Ökostrom umgestellt, was durch hohe Verbräuche in der Produktion einen großen Effekt hatte. Auch die Fuhrparkumstellung auf E-Mobilität brachte hohe Einsparungen an Emissionen.
Eine nachhaltige Unternehmenskultur leben
Dies baute auch Barrieren und Vorurteile ab, die es natürlich auch bei den Beschäftigten gab: Alle durften die E-Autos Probe fahren und mittlerweile ist die Skepsis einer Selbstverständlichkeit gewichen.
Nachhaltigkeit wurde erfolgreich in die Unternehmenskultur integriert, wodurch auch bestehende Barrieren und Vorurteile, die zunächst bei den Mitarbeitenden vorhanden waren, abgebaut werden konnten. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die Möglichkeit für alle Mitarbeitenden, E-Autos auszuprobieren. Das führte dazu, dass anfängliche Skepsis inzwischen einer breiten Akzeptanz und Selbstverständlichkeit gewichen ist.
Zudem wurde Nachhaltigkeit konsequent in die Unternehmensstrategie aufgenommen. Alle Abteilungen wurden mit verbindlichen Zielen ausgestattet, die die Zirkularität berücksichtigen. So umfasst die IT beispielsweise eine Refurbished-Strategie, während im Marketing das Ziel verfolgt wird, einen „Zero-Waste“-Messestand zu realisieren.

Ebenfalls hilfreich für die Aktivierung der Belegschaft fand Susanne Schlüter interne Workshops z.B. zum Thema „Strom sparen zu Hause“ und auch Community-Aktionen wie z.B. das gemeinsame Begrünen einer Freifläche zum Pausengelände.
Hier steht heute auch noch ein Tiny-Meetingraum, ein schöner Bauwagen, der gerne von Teams genutzt wird.
Ein weiteres Learning für das Unternehmen: Transparenz und Berichterstattung haben einen hohen Mehrwert und zeigen Wirkung. Das gilt nach innen in die Belegschaft, aber auch nach außen z.B. in Richtung Kund*innen oder entlang der Lieferketten. Den Austausch beschrieb Susanne Schlüter als bereichernd und ermutigend.
Der digitale Produktpass in Theorie und Praxis
Mit dem Thema Transparenz ging es bei dem Beitrag von Stephan Multhaupt vom Mittelstand-Digital Zentrum Wertnetzwerke / CSCP direkt weiter. Er stellte das digitale Tool „Digitaler Produktpass“ (DPP) vor, mit dem entlang der ganzen Lieferkette Informationen über ein Produkt bzw. Bestandteile vorliegen und zugänglich sind.
Dies sei generell wichtig, jedoch besonders entscheidend in der Kreislaufwirtschaft. Hier gibt es eine stärkere Vernetzung von Lieferketten und Nutzern, auch in weiteren Lebenszyklen bis zum Lebensende eines Produktes.
Dies ist im Vergleich zur Linearwirtschaft eine besondere Herausforderung.

Der digitale Produktpass kann die Kommunikation über das Produkt vereinfachen. Somit ist er auch eine wichtige Voraussetzung für eine gelingende Kreislaufwirtschaft.
Ziele des Produktpasses, so zeigte Stephan Multhaupt, sind also:
- Das Produkt-Lebenszyklus-Management,
- Förderung von Produkt-als-Dienstleistung-Geschäftsmodellen,
- Steigerung des Kundenvertrauens,
- Optimierte Rücknahme und Recycling am Lebensende bzw. zwischen Lebenszyklen.
Er wies darauf hin, dass es in diesem Bereich eine Vielzahl an Regularien gibt, die teils sehr detailliert sein können. Auf der anderen Seite bemühten sich jedoch zahlreiche Institutionen darum, Standards zu setzen und durch Vereinheitlichung die Umsetzung zu erleichtern.
Für Unternehmen sei es von Vorteil, wenn sie beispielsweise ISO-Zertifizierungen besitzen, da sie damit bereits viele der Daten erheben, die für einen DPP benötigt werden. Die Verfügbarkeit dieser Daten ist für die erfolgreiche Umsetzung natürlich entscheidend, wobei er betonte, dass viele dieser Informationen oft leichter zugänglich sind, als es zunächst erscheint.
Bezüglich der Relevanz eines DPP für die Kreislaufwirtschaft und die Nachhaltigkeit hob er jedoch hervor:
„Bei aller Standardisierung und Transparenz, auch durch einen DPP, sollten die Unternehmen idealerweise den Kontext im Blick behalten.
Was ist die Wert(e)orientierung, an der ein Geschäftsmodell ausgerichtet ist?“
Stephan Multhaupt

Er schloss seinen Vortrag mit Praxisbeispielen aus der Schuhbranche, aus dem Bereich digitaler Kommunikation sowie aus dem Bereich Heizung/Wärmetechnologie.
Umsetzung in der Praxis: Wie macht es Stannol?

Im Gespräch mit Ingo Lomp, Prokurist und Leiter Innovation bei Stannol, wurde zunächst der Weg des Unternehmens hin zur Idee des digitalen Produktpasses erläutert.
Ingo Lomp berichtete, dass Stannol ein Projekt ins Leben gerufen hatte, das darauf abzielte, die Herkunft der Rohstoffe produktbezogen sicher nachweisen zu können.
Ursprünglich wurde hierfür die Blockchain-Technologie in Betracht gezogen. Doch das Vorhaben wurde nicht weiterverfolgt, insbesondere aufgrund des hohen Aufwands und der fehlenden Markttauglichkeit. Trotzdem blieb man bei Stannol davon überzeugt, dass die Transparenz der Herkunft in Zukunft eine zentrale Rolle spielen würde.
Der digitale Produktpass als temporäre Website
Aus diesem Ansatz entstand die Idee, die relevanten Informationen produktchargenbezogen über eine temporäre Website darzustellen.
Eine der zentralen Herausforderungen dabei war es, die Vielzahl an Informationen zu sammeln, zu kanalisieren, zu selektieren, korrekt zuzuordnen und schließlich in einer benutzerfreundlichen Weise darzustellen. Vorteilhaft für das Unternehmen war, dass es bereits seit vielen Jahren Daten erhebt und in Informationsmanagementsystemen speichert, um den hohen Prüfanforderungen gerecht zu werden, die für ihre Produkte erforderlich sind.
Die interne IT-Abteilung entwickelte daraufhin eine technische Lösung, die es Kund*innen ermöglicht, durch die Eingabe der Artikel- und Chargennummer in einer Suchmaske alle relevanten Informationen aus einem Data Lake abzurufen und auf einer temporären Website anzuzeigen.
Mit Stefan Multhaupt diskutierte er die Anwendung in der Praxis durch Kundschaft, die diese Informationen direkt zur Verfügung gestellt bekommen wollen. Hierfür gäbe es Möglichkeiten wie z.B. die Programmierung von Schnittstellen, so Lomp.
Werksführung durch die Produktion
Nach einer kurzen Pause nahm sich Herbert Schmidt, Prokurist und technischer Leiter, viel Zeit, um unsere Reisegruppe durch die Produktion zu führen.
Wir erhielten umfassende Einblicke in alle Produktionsbereiche, vom Wareneingang der Rohmetalle über das Schmelzen und Legieren bis hin zur Drahtpressung und dem Aufspulen. Dabei wurden zahlreiche interessante Informationen vermittelt.
Die Führung war sorgfältig vorbereitet und gut strukturiert: An verschiedenen Stationen hatte das Team Poster angebracht, die die Inhalte der vorherigen Vorträge visuell wiederholten. Ein besonders beeindruckender Fakt war, dass der produzierte Lötdraht jährlich 1,7 Mal den gesamten Globus umrunden würde.
Ein weiteres Highlight war ein interaktives Quiz bzw. Puzzle, das die Teilnehmenden lösen sollten. Dies ermöglichte es, auf anschauliche Weise zu verstehen, wie viel Rohmaterial durch den Einsatz von Rezyklat eingespart wird.




Reflexion und Ausblick
Wir sind sehr motiviert an diesem Tag nach Hause gefahren. Hier stimmte die Chemie voll und ganz und wir waren sehr dankbar für diese Offenheit und den herzlichen Empfang.
Und wir fuhren auch voller Vorfreude, am Tag darauf ein weiteres Unternehmen zu besuchen.
Die Kreislaufwirtschaft ist sicherlich in der digitalen Branche, in der Stannol ein wichtiger Teil der Lieferkette ist, entscheidend. Doch auch die Baubranche, mit ihrer großen Wirkung auf die Umwelt, ist sehr relevant. Daher freuten wir uns schon auf Tag 4, an dem wir die Firma Brüninghoff in Heiden besuchen sollten.
Begleiten Sie uns weiter auf dieser Reise in eine nachhaltigere Zukunft!
Digitalisierung und Kreislaufwirtschaft sind auch für die ressourcenintensive Bauwirtschaft eine lohnende Kombination. Dies erleben Sie an Tag 4 unserer Reise Brüninghoff Group in Heiden.
Sie möchten weitere Infos zu unserer Reise in die Kreislaufwirtschaft bekommen? Hier geht es zu unseren Tagebucheinträgen der Edition Nordwest.
